Die Kraft der heilenden Hände
In einem Beitrag der Union Krankenversicherung werden die Vorteile und Hürden der Alternativmedizin, insbesondere der Osteopathie sehr gut dargestellt.
Unter den alternativmedizinischen Behandlungen erlebt die Osteopathie einen regelrechten Boom und viele Krankenkassen bezuschussen sie. Dabei ist ihre Wirksamkeit bis heute nicht eindeutig nachgewiesen worden. Verwirrenderweise kommt in Deutschland noch hinzu, dass Patienten kaum erkennen können, welche Qualifikation ein Osteopath hat. Der Verband der Osteopathen Deutschland möchte deswegen eindeutige Qualitätsstandards festlegen.
Mit ein paar Fingergriffen gegen den Tinnitus
Jahrelang litt Susanne Gülzow unter starkem Ohrendruck, einem Tinnitus und Nackenschmerzen. Ihre Ärzte konnten ihr nicht helfen. Von Pontius zu Pilatus sei sie gelaufen und habe sogar eine Selbsthilfegruppe für Tinnitus-Erkrankte besucht – ohne Erfolg. Eher durch Zufall sei sie dann bei einer Osteopathin gelandet, die sie mit einer Cranio-Sacral-Therapie behandelte. Und das sei ein regelrechtes Aha-Erlebnis gewesen, erinnert sich Gülzow zurück. „Mit ein paar Fingergriffen hat sie mir den Ton im Ohr leiser und lauter gestellt. Das war wie bei einem Radio.“
Osteopathie als Allzweckwaffe gegen Volksleiden
Seitdem schwört die heute 40-Jährige auf die Osteopathie – Und mit ihr tun es immer mehr Deutsche, für die diese Behandlungsform zur Allzweckwaffe im Kampf gegen die Volksleiden Rückenschmerzen, Verspannungen und Blockaden geworden zu sein scheint. Die Branche spricht von zweistelligen Zuwachsraten, was sicher auch daran liegt, dass viele Krankenkassen mittlerweile zumindest einen Teil der Kosten erstatten. Und die sind nicht ganz niedrig, schließlich dauert eine Sitzung in der Regel bis zu 60 Minuten bei einem Stundensatz von ca. 85 Euro. Mit einer Zusatzversicherung bekommen Patienten sogar noch mehr Geld erstattet.
Dabei ist die Wirkung von Osteopathie, die Laien oft an eine intensive Massage erinnert, aus wissenschaftlicher Sicht nur in Teilen bestätigt worden. Ein Teil der positiven Effekte wird beispielsweise allein der Zeit und der Aufmerksamkeit zugeschrieben, die ein Patient von seinem Osteopathen bekommt – und nicht der tatsächlichen Behandlung. Ein klassischer Placebo-Effekt also. Um die Wirkung tatsächlich bewerten zu können, fehlt es jedoch noch immer an umfangreichen Studien zur Osteopathie.
Der Körper soll sich selbst heilen können
Das erstaunt eigentlich, denn entwickelt wurde die Osteopathie bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still (1828–1917) war davon überzeugt, dass der Körper eine Funktionseinheit bildet und grundsätzlich zur Selbstregulierung fähig sei. Dabei seien sämtliche Körperfunktionen von der Ent- und Versorgung durch das Nerven- und Gefäßsystem abhängig. Das Prinzip der Osteopathie bezieht sich so zum einen auf die Beweglichkeit des Körpers in seiner Gesamtheit, zum anderen auf die Eigenbewegungen der Gewebe, der einzelnen Körperteile und Organsysteme sowie deren Zusammenspiel.
Ist die Beweglichkeit eingeschränkt entstehen aus Sicht der Osteopathie zunächst Gewebespannungen und darauf folgend Funktionsstörungen. Mit den Händen spürt der Osteopath Bewegungseinschränkungen im Gewebe, beseitigt diese und überlässt die Selbstheilung dem Körper, der durch die verbesserte innere Beweglichkeit nun dazu in der Lage sein sollte. 1874 stellte Still diese Behandlungsmethode der Öffentlichkeit vor und gründete 1892 die American School of Osteopathy in Kirksville, Missouri. Seit 1960 gilt die Osteopathie in den Vereinigten Staaten als allgemein anerkannt. Die Osteopathie kann man dort nicht nur studieren, sondern mit dem staatlich anerkannten Abschluss ist man sogar Ärzten gleichgestellt.
Herausforderung: Den richtigen Osteopathen finden
Davon ist man in Deutschland jedoch noch weit entfernt – und genau darunter leidet hierzulande die Osteopathie. Und mit ihr die Patienten. Das sagt auch Susanne Gülzow. Heute sei ihr klar, wieviel Glück sie damals hatte, im wahrsten Sinne des Wortes ‚in die richtigen Hände’ geraten zu sein: „Ich habe auch andere Osteopathen ausprobiert, aber da ist gar nichts bei rumgekommen.“ Mit ihrem heutigen sei sie rundum zufrieden. Doch wenn sie ihn nicht mehr hätte, wüsste sie nicht, wie sie adäquaten Ersatz finden soll.
Ein Dilemma, das viele Patienten in Deutschland teilen. Das Problem: Auf den ersten Blick kann man einen vollausgebildeten Osteopathen nicht von einem Heilpraktiker oder Arzt unterscheiden. Und das hat seinen Grund. Denn bislang muss jeder, der in Deutschland als Osteopath arbeiten will, eine Heilpraktiker-Zulassung haben oder Arzt sein – ganz gleich, welche Qualifikation er hat. Manche Schulen bieten mehrjährige Ausbildungen an, aber auch in Wochenendkursen kann die Osteopathie im Schnelldurchgang erlernt werden.
Titelschutz für Osteopathen gefordert
Das kritisiert auch Marina Fuhrmann. Sie ist Deutschlands erste Professorin für Osteopathie und Vorsitzende des VOD, dem Verband der Osteopathen Deutschland mit 4.300 Mitgliedern. „Der Begriff der Osteopathie ist längst etabliert und auch in der Politik spricht man von Osteopathen, die es aber letztendlich gar nicht gibt. Wenn Sie zu einem Absolventen der Hochschule gehen, können Sie ihn von außen nicht erkennen, weil er sich als Heilpraktiker bezeichnen muss. Wir möchten eine klare Differenzierung haben und einen Titelschutz des Osteopathen. Wer den Titel Osteopath trägt, der soll auch Osteopath sein und nicht Physiotherapeut, nicht Heilpraktiker und nicht Arzt.“
Damit vertritt der VOD eine andere Position als die Bundesärztekammer. Diese unterstützt zwar die Notwendigkeit einer gesetzlichen Neuregelung, um die bisherige Heilpraktiker-Zulassung als Voraussetzung für praktizierende Osteopathen abzuschaffen. Uneinig sind sich die Parteien allerdings darüber, was als zukünftiger Standard gelten sollte. Der Präsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery will die Osteopathie „zwingend in die Hände von qualifizierten Ärzten und Physiotherapeuten“ legen: „Wer sich dem verweigert, spielt ohne Not mit der Gesundheit und Sicherheit von Patienten.“ Für die VOD-Vorsitzende Marina Fuhrmann klingt das eher nach einer Abwertung. Sie lehnt dieses Konzept ab und will die Osteopathie als eigenständiges Berufsbild ähnlich wie in den USA etablieren und somit massiv aufwerten.
Was der VOD übrigens auch nicht will, ist, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für Osteopathie abwickeln und damit übernehmen. „Wenn jemand eine hochqualifizierte Ausbildung hat, muss er sich auf dem Markt als Selbstständiger durchsetzen mit einer Dienstleistung, die nicht pauschal honoriert wird. Das war schon immer das Beste für die Qualitätssicherung“, erklärt Fuhrmann.
Das klingt zunächst etwas befremdlich und nach Lobbyarbeit, doch die Hauptsorge des VOD ist, dass es Osteopathen ergeht wie den Physiotherapeuten. „Physiotherapeuten sollten für ihre Leistungen besser honoriert werden, doch stattdessen werden Physiotherapeuten dazu ermuntert, eine osteopathische Ausbildung zu machen, weil sie sich dann besser vermarkten können.“ Fuhrmann befürchtet, dass die Qualität leiden würde, wenn die osteopathischen Behandlungen über die Krankenkassen abgerechnet würden.
Das ist ein Argument, dass auch Susanne Gülzow zumindest teilweise nachvollziehen kann. Denn neben der fachlichen Qualifikation ihres Osteopathen ist ihr besonders wichtig, dass er sich Zeit für sie nimmt. „Eine solche Behandlung kann man nicht in einer halben Stunde und unter Zeitdruck machen“, ist sie überzeugt. Natürlich würde sie sich freuen, wenn ihre Ausgaben für die Behandlungen von den Kassen übernommen würden, doch in erster Linie will sie eine gute Behandlung. „Und dann ist es mir auch wert, wenn ich dafür selbst etwas zahlen muss.“